< PreviousBewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Pro Geführte Bewe gungen ermög lichen eine hohe Lasteinleitung Hohe Sicherheit Contra Geführte Be we gungen kommen im Alltag nicht vor Geringer Anspruch an die Koordination Isoliertes Kräftigen an Geräten Pro Höhere Anfor de rung an Stabilisierungs- arbeit und Stützmotorik Simulation alltags- oder sportspezifischer Bewegungen Kraftumsetzung Contra Technisch schwie rigere Ausführung Geringere Last - einleitung als an geführter Maschine Integration freierer Bewegungen Pro Einbeziehen sensomo- torischer Fähigkeiten, Einbeziehen kogniti- ver Komponenten Verbesserung des Gleichgewichts, Verminderung des Sturzrisikos Contra Nur noch Training mit geringen Lasten möglich Keine strukturellen Anpassungen am Muskel- und Skelettsystem Bewegungen unter erschwerten Bedingungen Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Erläuterung der Notwendigkeit der Kraft durch Beispiele Es nützt einer Person, die z. B. gerne in den Bergen wandert, nicht viel, wenn sie koordinativ gut ist und ein ausgeprägtes Gleich- gewichtsgefühl entwickelt hat, aber nicht die Kraft aufbringt, ihr eigenes Körpergewicht bergauf zu bewegen. Entwickeln Sie weitere Beispiele, die auf die jeweilige Per- son zutreffen, welche Sie coachen. Wer den individuellen Nutzen eines Trainings mit höheren Lasten erkennt, wird dies auch dauer- haft durchführen. Mit Zwischenzielen arbeiten Planen Sie gemeinsam, nach wie vielen Trainingseinheiten wel- ches Trainingsgewicht erreicht werden soll. Nutzen Sie das Prin- zip der progressiven Belastungssteigerung. Natürlich kann ein Trainingsanfänger nicht direkt mit Lasten trainieren, die bei 70–80 % seines 1RM* liegen, dies würde gerade die Strukturen des passiven Bewegungsapparats zu Anfang überlasten. Leider ist aber gerade bei älteren Personen häufig zu beobachten, dass selbst nach einem Jahr regelmässigen Krafttrainings die Gewich- te gar nicht oder nur unterschwellig gesteigert werden. * 1 Repetition Maximum (1RM) ist das maximale Gewicht, das eine Person nur einmal in einem definierten Bewegungsbereich bewegen kann. Je nach Person haben diese drei Bereiche unterschiedliche Gewichtung in der Trainingsplanung. 20Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 21 Literatur Alfonso, J. et al.: Sarcopenia – European consensus on definition and diagnosis. Oxford University Press, 2010. Baum K.: Krafttraining bei Senioren – Hilfe zum Leben im Alter. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 46 (4, 214-220), 1995. Beaudart, C., et al.: Sarcopenia – burden and challenges for public health. Arch Public Health 18, 2014. Binkley, N et al.: It’s time to consider «sarco-osteopenia». J Clin Densitom, 2009. Buess, D., Kressig, R. W.: Sarkopenie – Definition, Diagnostik und Therapie. Mini-Review Akut. Clausen, J., Dietzel, R., Armbrecht, G.: Sarkopenie bei Patienten mit rheumatischen geriatrie. Friedmann, B.: Neuere Entwicklungen im Krafttraining. Muskuläre Anpassungsreaktionen bei verschiedenen Erkrankungen. Universitätsspital Basel. Evans W.J.: Skeletal muscle loss: cachexia, sarcopenia, and inactivity. Am J Clin Nutrition, 2010. Krafttrainingsmethoden. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 58 (1), 2007. Gehlert, S.: Sarkopenie – Bewegung und proteinreiche Ernährung helfen. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 2021 Hauer, K.: Körperliche Bewegung im Alter. In Nikolaus,T. (Hrsg.): Klinische Geriatrie. Springer Verlag Berlin, 2000 Janssen I, Shepard DS, Katzmarzyk PT, Roubenoff R: The healthcare costs of sarcopenia in the United States. J Am Geriatr Soc., 2004 Liu C. J.: Progressive resistance strength training for improval physical function in older adults. Chochrane Database Syst Rev, 2009. Newmann A.B., Kupelian, V. Visser, M. et al.: Sarcopenia – alternative definitions and associations with lower extremity function. J Am Geriatric Soc, 2003 Peterson M.D., Rhea M.R., Sen, A. et al.: Resistance exercise for muscular strength in older adults: a meta-analysis. Aging Res Rev, 2010 Shepard,R.J.: Gender, Physical Activity and Aging. CRC Press London, 2002 Welche Anpassungen bei welcher Intensität (nach Gottlob) 0 %49 %70 %50 % Verbesserung von Stoffwechsel und Energiebereitstellung Gymnastische Effekte Kardiotraining bei ausreichender Dauer Exzentrisches Krafttraining, Plyometrics, … Muskelquerschnittsvergrösserung Effektive Rehabilitation Lebensqualitätssteigerung bei älteren Menschen Leistungsfähige Beweglichkeit Haltungsverbesserung Erhöhung der Knochendichte Verstärkung von Sehnen, Bändern, Faszien und Gelenkstrukturen Erhöhte Gelenkstabilisierung Verbesserte Schutzfunktion Kapillarisierung gesteigerte Schnelligkeit Günstige Auswirkung auf Gehirnstoffwechsel und Psyche 80 %75 %60 %90 %100 % > 100 % Trainingseffekte unterschiedlicher Intensitäten im Krafttraining bezogen auf das 1 RM (Repetition Maximum)Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Die Kampagne zeigt, dass ein verbesserter Gleichgewichtssinn, mehr Beinkraft und mehr mentale Fitness zu höherer Sicherheit im Alltag führen. Finanziert wird die Kampagne durch die Haupt- partner BFU (Beratungsstelle für Unfallverhütung), Pro Senectute Schweiz und Gesundheitsförderung Schweiz. Als weitere Fach- partner sind die Rheumaliga Schweiz, Physioswiss, der Ergothe- rapeutInnen-Verband Schweiz EVS, Dalcroze Rhythmik sowie die Kooperationspartner Stiftung Hopp-la und Winterfit Vitality vom STV gemeinsam mit den Hauptpartnern für die operative Um- setzung zuständig. Nun wird der SFGV ebenfalls eine Partnerschaft eingehen und die Dienstleistungen der gesundheitsorientierten Fitness- center bezüglich der Sturzprävention integrieren. SFGV-Mitglieder und vom Fitness-Guide zertifizierte Cen- ter können, wenn die nötigen personellen und infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sind, das Zusatzlabel «sichergehen.ch» erhalten. Personelle Voraussetzungen Die fachlichen Kenntnisse, welche die Mitarbeitenden in Bezug auf Gangsicherheit, Sturzprophylaxe, Training mit älteren Men- schen, Training bei Beschwerden am Bewegungsapparat sowie den Umgang mit den NCD-Erkrankungen besitzen müssen, wer- den in unserer höheren Weiterbildung sehr differenziert vermit- telt und in den eidg. Abschlüssen geprüft. Die Voraussetzung, dass ein gesundheitsorientiertes Fit- nesscenter das Label «sichergehen.ch» erwerben kann, ist min- destens eine 100-Prozent-Stelle eines Mitarbeitenden mit der Qualifikation «Spezialist/in Bewegungs- und Gesundheits- förderung mit eidg. Fachausweis» . Einzelcoaching Ein hoher zusätzlicher Nutzen für ältere Menschen liegt in der konstanten Einzelbetreuung im Training an den Geräten. Bei jeder Trainingseinheit steht ein qualifizierter Mitarbeiter zur Verfügung und begleitet die Person bei ihren Übungen eins zu eins. Dies er- möglicht nicht nur eine 100-prozentige individuelle Gestaltung der Trainingsprogramme: Einzelcoaching gibt gerade älteren Menschen die nötige Sicherheit im Training und sorgt unmittel- bar für die soziale Integration in das Center durch eine direkte Bezugsperson. Für die Zertifizierung mit dem Zusatzlabel «sichergehen.ch» muss das Center ein Betreuungskonzept vorlegen, welches das Einzelcoaching mit älteren Menschen dokumentiert. Folgende Aspekte müssen darin enthalten sein: – ein Musterprogramm, das den Trainingskriterien von «sichergehen.ch» entspricht (siehe Abb. 1) – eine Gesundheitsabklärung – eine ärztliche bzw. therapeutische Informationsdokumentation – ein Testing und Re-Testingkonzept – eine Trainingsdokumentation – die Organisation der dauerhaften Betreuung (Dauer, Terminabsprachen, Rückmeldungen) – das Notfallmanagement – therapeutische und ärztliche Kooperationen (falls vorhanden) «sichergehen.ch» – das Zusammenarbeitungskonzept zwischen der BFU und dem SFGV / Fitness-Guide Erfolgreiche Umsetzung der SFGV-Tools Die Kampagne «sichergehen.ch» will ältere Menschen mit Gangunsicherheiten durch aktives Training unterstützen und für ein regelmässiges Training begeistern. Von André Tummer 22Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Das Center muss nachweisen, dass diese Kurse durch Mitar- beitende mit eidg. Fachausweis (Fachrichtung Fitness und Gesundheit oder Fachrichtung Körper und Bewegung) geleitet werden . Einfache, non-formale Ausbildungen in oben genannten Kursen reichen nicht aus. Die Trainingskriterien müssen ebenfalls durch eine Musterlektion dokumentiert sein. Die Qualitätskontrollen werden in die bestehenden Fit- ness- Guide-Zertifizierungsprozesse bei den Vor-Ort-Audits inte- griert und überprüft. Vernetzung über die Homepage «sichergehen.ch» Gesundheitsorientierte Fitnesscenter mit Zusatzlabel «sicher- gehen.ch» werden mit in die Suchfunktion der Homepage «sicher- gehen.ch» aufgenommen. Interessenten können dann über eine Standortwahl und über das Angebot filtrieren. Umkehrt verlinkt jedes zertifizierte Center sowie auch der SFGV / Fitness-Guide seine Homepage selbst mit «sichergehen.ch». Für weitere Auskünfte und Fragen wenden Sie sich bitte direkt an André Tummer unter a.tummer@sfgv.ch. Abb. 1: Trainingskriterien von «sichergehen.ch» Gruppenkurse in Fitnesscentern Auch Gruppenkurse in Fitnesscentern können zum Angebot von «sichergehen.ch» gehören, wenn sie die folgenden Trainingskrite- rien in den Lektionen aufweisen: Trainingskriterien 1. Das Krafttraining fokussiert auf die unteren Extremitäten und den Rumpf. Wenn möglich wird auch Schnellkrafttraining miteinbezogen. 2. Gleichgewichtstraining beinhaltet sowohl statisches als auch dynamisches Gleichgewicht. 3. Das Training enthält Dual- und Multitask-Übungen. 4. Die Übungen werden den Teilnehmenden (TN) individuell angepasst, um Unter- resp. Überfor derung zu vermeiden. 5. Wenn immer möglich gehen die TN in jeder Lektion auf den Boden und stehen wieder auf. Falls nötig erhalten sie Unterstützung oder Haltehilfen. 6. Die Übungen werden in einen Bezug zum Alltag der TN gestellt. 7. Mindestens der Timed-Up-and-Go-Test (TUG) wird in regelmässigen Abständen durchgeführt und dokumentiert. Optimal ist die Durchführung des TUG und des Chair-Stand-Tests. Die Tests sind für die TN freiwillig. 8. Die TN erhalten Informationen über die Wichtigkeit und Regelmässigkeit eines sinnvollen Trainings zur Erhaltung resp. Verbesserung der Kraft- und Gleichgewichtsfähigkeit. Die Abgabe eines Heimprogramms und eines Trainingstagebuchs wird empfohlen. 23Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Fitness-Guide Erfolgreiche Umsetzung der SFGV-Tools Die Anzahl der SFGV-Mitglieder, die sich dem Fitness-Guide anschliessen, steigt von Monat zu Monat. An dieser Stelle kommentieren einige unserer Mitglieder ihre Entscheidung. Wir bieten Frauen jeden Alters Fitness- und Wellnessangebote in einem persönlichen Umfeld an. Eine individuelle Betreuung ist dabei zentral. Die Spezialisierung und Digitalisierung schreitet auch im «Panthera Ladys Gym» immer mehr voran. Trotzdem bleibt der Mensch das Wichtigste. Der Fitness-Guide hilft uns, das auch nach aussen zu tragen. Den persönlichen Besuch von Claude Amman bei uns ha- ben wir sehr geschätzt. Er gab uns wichtige Inputs und wir über- legen uns sogar, mittelfristig eine Lehrstelle anzubieten. Während der Zeit der Schliessung wurden unsere Fragen immer beantwor- tet. Doch vorerst wollen wir uns noch stärker in Richtung Ge- sundheit positionieren. Auch da schätzen wir die Unterstützung durch den Verband. « » Urs Zumstein, Panthera Ladys Gym Mühlebachstrasse 5, 6370 Stans Telefon: 041 610 70 00, info@panthera-ladysgym.ch, www.panthera-ladysgym.ch 24ANZEIGE Wir feierten 2019 bereits unser 30-jähriges Jubiläum. Unser Center betreut Kunden vom Senior (ältestes Mitglied 91 Jahre!) bis zum Leistungssportler (Ramon Zenhäusern-Skifahrer, Kilian Frankyni, Radprofi). Bei uns steht der Kunde an erster Stelle. Das bedingt, dass das Personal entsprechend qualifiziert ist. Erstmals im Oberwallis werden wir ab Herbst auch eine Lehrtochter ausbilden. Wir sind schon länger Mitglied beim SFGV und haben uns nun für den Fitness-Guide entschieden, weil uns der SFGV auch in der schwierigen Pan- demiezeit nie im Stich gelassen hat. « » Peter Andenmatten (links) und Hans-Peter Brunner (rechts) Fitness-Palace Neue Simplonstrasse 38, 3900 Brig Telefon: 027 924 33 00, www.fitness-palace.ch a Standortbestimmung fürs Training a Gesundheitsberatung a neue Ziele definieren a Neukundengewinnung Exklusiver Vertriebspartner für die ganze Schweiz: best4health gmbh Grindelstrasse 12 | 8303 Bassersdorf Tel. +41 44 500 31 80 mail@best4health.ch www.best4health.ch Jetzt anrufen: 044 500 31 80 und InBody testen! JETZT ... Umfassende Körperanalyse in weniger als 1 Minute Check-Up bei Ihren KundenBewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Berufsbild: Aus- und Weiterbildung / Bewegungs- und Gesundheitsförderung Die fitte Mitte Urininkontinenz beim Training – (k)ein Problem in der Fitnessszene? Die Problematik der Belastungsinkontinenz betrifft viele sportlich aktiven Frauen und wird als Tabuthema zu wenig berücksichtigt. Mittels bewusster Wahrnehmung der An- und Entspannung des Beckenbodens und dem willkürlichen Einsatz der Muskelkraft in spezifischen Trainingssituationen kann der unfreiwillige Abgang von Urin bereits gemildert werden. Entsprechende Basisübungen sollten standardmässig jeder Frau vermittelt werden, die ihre Fitness in einem Center trainiert. Belastungsinkontinenz: Gesundheitsexpertinnen und -experten der Fitnessbranche sollten sich dieses Tabuthemas annehmen. 26Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Ein Tabu in der Fitnessszene Die Zahlen sprechen eine deutliche Spra- che: Zwischen 20 und 84 % aller sport- lich aktiven Frauen kennen den Urinver- lust bei körperlichen Belastungen im Training. Diese Form des unfreiwilligen Abgangs von Urin beim Joggen, bei Sprüngen oder beim Drücken / Heben, aber auch beim Husten und Niesen, wird Belastungsinkontinenz (BI) genannt [1]. Weit gefehlt also, wollte man meinen, dass von diesen Beschwerden nur ältere, inaktive Frauen oder Frauen nach einer Geburt betroffen sind. Obwohl dieses Thema in den Medien verstärkt aufgegriffen wird, scheint es immer noch ein Tabuthema zu sein. Was auch nicht verwundert – ist doch ein sehr intimer Körperbereich davon betroffen und das Problem löst grosse Peinlichkeit aus. Wie wert- voll, dass sich die bekannte Schauspielerin Kate Winslet («Titanic») offen dazu bekennt und damit zahlreichen Frauen Mut macht, auch darüber zu sprechen. Sie spricht aus, was viele Frauen aus Scham verheimlichen: «Ich kann nicht mehr auf dem Trampolin springen. Ich bepinkle mich … Es ist schrecklich, besonders, wenn man einen Rock trägt … Es ist erstaunlich: Zweimal niesen und alles ist gut, aber dreimal und es ist zu spät.» Die Auswirkungen des Problems sind vielfältig Die Lebensqualität sowie das Wohlbefinden leiden [2]. Scham und Frustration lösen psychischen Stress aus [3]. Urininkontinenz be- lastet emotional, sozial und finanziell. Obwohl die Lebensqualität eingeschränkt wird, bleiben diese Beschwerden in unserer Gesell- schaft tabuisiert. Die meisten betroffenen Frauen suchen des- wegen keine Hilfe [4, 5]. Aus der Perspektive der Gesundheits- und Bewegungsförderung resultiert aber noch ein weiterer bedeutsamer Aspekt: Die Belastungsinkontinenz stellt für Frauen ein Hindernis dar, sich an sportlichen und Fitnessaktivitäten zu beteiligen. Aktive Frauen und Breitensportlerinnen könnten ge- neigt sein, die Teilnahme an körperlicher Aktivität zu reduzieren, weil das Auftreten von Inkontinenz als peinlich erfahren wird [6, 7]. Gemäss Be- richten fühlen sich 45 % der Betroffenen beim körperlichen Training mittelmässig bis stark eingeschränkt [2]. Aus diesem Grund kann eine Belastungsinkontinenz auch zu Bewegungsmangel führen. Was sind die typischen Auslöser Das Auslösen der Belastungsinkontinenz bei sportlich aktiven Frauen hat mit Im- pactaktivitäten, also Belastungen, die Stossbelastungen beinhalten, und einem erhöhten intraabdomi- nellen Druck zu tun. So zeigten Studien eine Inkontinenzhäufig- keit von 84 % im Crossfit [8], 80 % beim Trampolinspringen [9], 75 % beim Seilspringen [10], 65 % beim Volleyball [11], 62 % bei Langstreckenläuferinnen [12], 37 % beim Triathlon usw. Viele die- ser Studien befassten sich ausschliesslich mit jungen Leistungs- sportlerinnen. In einer australischen Studie wurden deshalb auch Freizeitsportlerinnen untersucht, welche in Fitnesscentern und in Gruppentrainings aktiv sind. Es wurden 361 Frauen zwischen 18 und 83 Jahren befragt, von ihnen berichteten fast die Hälfte (49,3 %), eine Belastungsinkontinenz zu haben [13]. Nur 15 % die- ser Teilnehmerinnen wurden beim Eingangs-Screening auf eine Beckenbodendysfunktion angesprochen. In Anbetracht der Tatsache, dass Frauen im Fitness-Setting kaum zu diesen Themen befragt werden, und auch nicht selbst darüber reden möchten, kann man davon ausgehen, dass dieser Problemkreis in der Fitnessszene zu wenig untersucht ist und da- mit unterschätzt wird. Selbst Fitnessprofis sind von Urininkontinenz nicht ausge- schlossen. Eine norwegische Studie mit Einschluss von 59 Fit- nesscentern zeigte eine Häufigkeit von Urininkontinenz von 26 % unter Fitness-, Yoga- und Pilates-Instruktorinnen [14]. Eine schottische Studie bestätigt diese grosse Häufigkeit und weist in ihrer Untersuchung eine Inkontinenzhäufigkeit von 28 % bei Fit- nessinstruktorinnen auf [15]. Dr. Monika LeitnerDr. Lorenz Radlinger 27Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 Gebärmutter Blase Wirbelsäule Rectum Anus Die Beckenbodenmuskulatur unterstützt die Blase, die Gebärmutter und das Rectum. Vagina Harnröhre Der Blasenausgang wird durch die Beckenbodenmuskulatur unterstützt. Berufsbild: Aus- und Weiterbildung / Bewegungs- und Gesundheitsförderung Ist nun körperliches Training gut oder schlecht für den Beckenboden? Die Schlussfolgerung, dass körperliches Training dem weiblichen Beckenboden schadet, wäre übereilt und nach aktuellem wissen- schaftlichem Stand nicht haltbar. Derzeit gibt es keine Evidenz, dass Impactbelastungen eine BI (Belastungsinkontinenz) verursa- chen [16]. Vielmehr machen diese Aktivitäten eine bestehende Beckenbodenschwäche deutlich. Zwischen der Manifestation der Symptome und der Verursachung besteht ein grosser Unter- schied. Klar ist jedoch, dass körperlich aktive Frauen im Vergleich zu inaktiven Frauen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine BI erfahren während der Belastung, eben weil sie die Beckenboden- muskeln einer höheren Belastung aussetzen. Gleichzeitig kann aber festgestellt werden, dass trainierende Frauen im Vergleich mit inaktiven generell eine gleiche oder grössere Beckenboden- kraft aufweisen [17]. Anatomie und Physiologie des Beckenbodens Der Beckenboden ist ein komplexes dreidimensionales Gebilde aus Muskeln und Bindegewebe (Bänder und Faszien), das den Be- ckenraum nach unten hin abschliesst. Der weibliche Beckenbo- den gewährt der Harnröhre, der Scheide sowie dem After einen Durchlass und übt somit deren Verschlussfunktion aus. Dadurch kann die Stuhl- und Urinentleerung kontrolliert werden. Der Beckenboden hat auch eine Stützfunktion und trägt dabei die inneren Organe. Die zirka 9 verschiedenen Beckenbo- denmuskeln arbeiten zusammen mit dem Zwerchfell und den rumpfstabilisierenden Muskeln. Ein gesunder Beckenboden sollte im Sinne der Kontinenz- sicherung nicht nur kräftig und schnell anspannen können, er sollte auch bei der Entleerungsfunktion gut entspannen können. Die Dysfunktionen kann man in zwei Gruppen unterteilen: jene, die mit zu wenig Spannung (ungewollter Verlust von Urin, Wind oder Stuhl) und jene, die mit zu hoher Spannung (Schmerzen, z. B. beim Einführen eines Tampons oder beim Geschlechtsverkehr) einhergehen [18]. Ein näherer Blick auf die Kontinenz Das kontrollierte Zurückhalten des Urins – die Kontinenz – be- nötigt eine einfache, physikalische Voraussetzung: Der Druck in der Harnröhre muss grösser sein als der in der Harnblase bzw. im Bauchraum. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Inkontinenz in Funktion der Beckenbodenmuskeln 28Bewegungsmedizin – Nr. 10 / September 2021 dem Moment geschieht, in dem der Druck im Bauchraum bzw. in der Blase grösser wird als der in der Harnröhre. Die Situationen, in denen diese Druckerhöhung geschieht, laufen innerhalb einer sehr kurzen Zeit, nämlich im Bereich von Millisekunden ab. Da- durch ist vom Beckenboden nicht nur Maximalkraft, sondern auch Schnellkraft und reflektorische Spannungsfähigkeit gefor- dert. Dazu einige Beispiele: Der maximale Atemfluss beim Husten und Niesen erfolgt innerhalb von 100–150 ms [19, 20]. Die maxi- male Beckenbodenaktivität erfolgt bei der Landung von einer Stufe (Drop Jump) oder beim Joggen nach circa 130 ms [21, 22]. Aufgrund dieser Erfordernisse wird ersichtlich, dass für die Siche- rung der Kontinenz neben der willkürlichen Anspannung auch die unwillkürliche (reflektorische) Anspannung nötig ist. Die Beckenbodenmuskeln arbeiten willkürlich und unwillkürlich Für das willentliche Anspannen des Beckenbodens ist die Wahr- nehmung der Muskulatur sowie der Ausscheidungsöffnungen eine Grundvoraussetzung. Das Kennenlernen des Beckenareals, das Verstehen der Funktionsweise, der Zugang zu den Muskeln liefern die Basis, auf die ein Trainingsprogramm aufgebaut werden kann. In den vergangenen Jahrzehnten stand das willkürliche An- spannen der Beckenbodenmuskeln im Zentrum, was nach wie vor seine Berechtigung hat. Mit dem willkürlichen Anspannen können eine Hypertrophie und verbesserte Maximalkraft angepeilt wer- den. Eine bedeutende Umsetzung im Alltag ist das willkürliche An- spannen vor einer Drucksituation, also eine sogenannte Präkon- traktion. Dieser «Trick» wird in der englischsprachigen Literatur auch als «the knack» bezeichnet und meint damit zum Beispiel das kurzfristige Anspannen vor dem Husten, Niesen oder vor dem Naseputzen. Mit dieser Voranspannung des Beckenbodens kann der Druck in und um die Harnröhre erhöht und damit die Konti- nenz in der jeweiligen Situation des Alltags bewahrt werden. Meistens funktioniert dieser Unterstützungsmechanismus gut. Eine willkürliche Anspannung benötigt jedoch eine relative lange Zeitdauer, und so kann es sein, dass dieser Trick manchmal auch versagt, weil er zu spät eingesetzt wird. Das Maximum einer schnellen willkürlichen Spannung des Beckenbodens wird erst nach 500 ms erreicht [23]. Diese halbe Sekunde ist eine «halbe Ewigkeit», wenn man bedenkt, dass der Beckenboden nach 100–150 ms oder weniger «bereit» sein muss! Um in entsprechend kurzer Zeit der Herausforderung (Im- pact oder intraabdominelle Druckerhöhung) gewappnet zu sein, spannt der Beckenboden unwillkürlich bzw. reflektorisch an und schafft dies innerhalb von wenigen Millisekunden. In eigenen Untersuchungen konnten wir aufzeigen, dass der Beckenboden reflektorisch aktiviert wird: beim Landen nach einem Drop Jump nach 150–170 ms [21], beim Landen von einer Stufe nach 44 ms [24] und beim Joggen nach 50–150 ms [22]. Die Fähigkeit eines Muskels, in möglichst kurzer Zeit einen hohen Kraftimpuls zu erzeugen, wird Schnellkraft genannt. Dies ist auch beim Becken- boden von grosser Wichtigkeit; man konnte nämlich in Studien erkennen, dass inkontinente Frauen – im Vergleich zu kontinen- ten – eine geringere Schnellkraft aufwiesen [25]. Die Wirkung von Beckenbodentraining Das physiotherapeutische Training der Beckenbodenmuskulatur ist wirksam und zählt heute als erste Behandlungsoption bei BI [26]. Fokussiert wurde dabei bisher auf die willkürliche Kontrak- tion der Beckenbodenmuskeln. Als einfache Basisübung kann sich «Frau» dabei vorstellen, Scheide und After zu verschliessen, diese Öffnungen enger zu machen und den Dammbereich innerlich nach oben zu heben. Wichtig ist, dass dabei nicht die Luft ange- halten wird, sondern der Atem gleichmässig weiterströmen kann. Die Wahrnehmung dieser verschliessenden und hebenden Kom- ponente der Beckenbodenspannung ist wichtig und nicht selbst- verständlich umsetzbar. Zwischen 23 und 65 % der untersuchten Frauen – auch Spitzensportlerinnen – zweier Studien gelang die- se Komponente nur ungenügend [27, 28]. Im Sinne der oben erwähnten Präkontraktion sollte diese Spannung vor jeder intraabdominellen Druckerhöhung beim Kraft- training eingesetzt werden. Bei einer Geräteübung kann zum Bei- spiel vor und während der anstrengenden konzentrischen Bewe- gungsphase die Präkontraktion des Beckenbodens erfolgen, um die Auswirkungen des Drucks nach unten abzumildern. Am besten er- folgt dabei gleichzeitig das Ausatmen, da der Beckenboden mit dem Zwerchfell synergistisch verbunden ist. Bei einer «abdominal curl»- Übung aus Rückenlage kann die Wirkung des intraabdominellen Drucks ebenfalls abgedämpft werden, wenn rechtzeitig vorher der Beckenboden willkürlich angespannt wird. Diese Basis instruktion sollte jede Frau erhalten, die ihre Fitness in einem Center trai- niert. – Soviel zum Nutzen der willkürlichen Anspannung. Next >