< PreviousBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Im Gegensatz zur Arthrose entwickeln Patienten mit rheu- matischen Erkrankungen häufi g Begleitsymptome an anderen Organen (z. B. an Augen, Haut oder inneren Organen). Ausserdem leiden sie an Störungen des Allgemeinbefi ndens wie Appetitlosig- keit, Schwächegefühl oder mässigem Fieber. Zunächst sind bei der rheumatoiden Arthritis die Hand- und Fingergelenke betroffen. Später kommen grössere Gelenke hinzu. Typisch ist auch der symmetrische Befall der Gelenke bei- der Körperhälften. Die Fehlstellungen der Hand- und Fingerge- lenke sind so markant, dass die Hände oft als «Aushängeschild» eines Polyarthritikers bezeichnet werden. Fast immer ist das Gaenslenzeichen positiv, das heisst, das Zusammendrücken der Grundgelenke der Finger erzeugt einen starken Schmerz. Die wichtigsten Deformierungen sind: – Ulnardeviation: Die Finger «wandern» in Richtung Hand- aussenkante (Richtung Ulna) durch die Verschiebung der Fingergrundgelenke. – Schwanenhalsdeformität: Überstreckung im Fingermit- telgelenk bei gleichzeitiger Beugung im Fingerendgelenk – Knopfl ochdeformität: Beugekontraktur im Fingermittel- gelenk und Überstreckung im Fingerendgelenk (also die Umkehrung der Schwanenhalsdeformität). Alle bildgebenden Verfahren helfen dem Arzt bei der Diffe- renzialdiagnose. Die ARA (American Rheumatism Assosiation) hat den folgenden Kriterienkatalog zusammengefasst, wobei zur Gegenüberstellung von Arthritis und Arthrose degenerative Veränderung der Gelenkknorpel Knochenkontakt asymmetrisch Symptome Entzündung der Innenhaut der Gelenkkapsel entzündliche Prozesse zerstören Knochenzellen symmetrisch Gelenkschmerzen und -steifheit durch Entzündung Ruhe- und Nachtschmerzen morgendliche Gelenksteifi gkeit dauert länger als 30 Minuten an Schmerzen vor allem bei Bewegung morgendliche Gelenksteifi gkeit dauert weniger als 30 Minuten an Rheumatoide ArthritisArthroseBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Diagnose der rheumatoiden Arthritis mindestens vier dieser Kri- terien zutreffen müssen: – Morgensteifi gkeit der Gelenke während mindestens einer Stunde – Arthritis in mindestens drei Gelenkregionen – Arthritis der Finger- und Handgelenke – Symmetrischer Befall – Rheumaknoten (subkutane Knoten, die zwar auffällig, aber harmlos sind) – Rheumafaktoren positiv – Typische röntgenologische Veränderungen Die Blutuntersuchung ergibt, im Gegensatz zur Arthrose, positive Entzündungszeichen (BSG 1 , CPR 2 ) und einen Nach- weis von Rheumafaktoren. Die Abgrenzung zwischen Arthrose und Arthritis ist schwie- rig, weil jede lang andauernde Arthritis zur Arthrose führt(!), andererseits aber jede auch nur leichte Arthrose zumindest Quelle: Gesundheit heute, S. 994 Arthrose (degenerativ)Arthritis (entzündlich) UrsacheAbnutzung der Gelenke durch Fehl- oder Überlastung; gehäuft bei Übergewicht Entzündung der Gelenkinnenhaut durch Autoantikörper LeitbeschwerdenErmüdungs- und BelastungsschmerzRuheschmerz, Überwärmung, Schwellung EntwicklungEntwickelt sich über JahreEntwickelt sich innerhalb von Stunden oder Tagen LokalisationBetrifft meist grosse Gelenke, am häufi gsten Knie- und Hüftgelenke Betrifft grosse und kleine Gelenke Art des Gelenkschmerzes– Anlaufschmerz nach Ruhephase – Belastungsschmerz im Laufe des Tages zunehmend – Kaum Ruheschmerz – Kein Nachtschmerz – Dauerschmerz erst in Spätstadien – Langandauernder Morgenschmerz – Im Laufe des Tages abklingend – Ruheschmerz – Häufi g Nachtschmerz – Dauerschmerz SchwellungNur nach erheblicher BelastungFast immer (ohne vorherige Belastung) FieberNieManchmal VerlaufLangsam fortschreitendOft schubweise Schema der Gelenkveränderung – Verdichtung der gelenknahen Knochenzone – Örtliche Bildung von Osteophyten – Mechanische Gelenkzerstörung – Verdickte Gelenkinnenhaut – Pannusbildung – Gelenkspalt verschmälert – Umbau gelenknaher Knochenpartien – Generalisierte Schäden – Entzündliche Gelenkzerstörung Fehlstellungen der Hand- und Fingergelenke sind das typische Zeichen von Polyarthrose. vorübergehend eine Entzündung eines Gelenks, also eine Ar- thritis, mit sich bringt. Die richtige Diagnose ist unerhört wichtig, weil der Therapieansatz jeweils ein völlig anderer ist. Die Gegenüberstellung in der folgenden Tabelle stellt die Unter- schiede nochmals heraus. 1 Blutsenkung 2 C-reaktives Protein: EntzündungsparameterBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Bewegung statt Schonhaltung! Mit der richtigen Übungsauswahl und der angepassten Intensität profi tieren Betroffene sehr von einem regelmässigen Krafttraining. Umsetzung in die Praxis: Trainingsempfehlungen bei Autoimmunerkrankungen Regelmässiges Krafttraining tut Menschen mit einer chronischen Erkrankung grundsätzlich gut. Es kommt allerdings auf die richtige Intensität an, je nach Grad der entzündlichen Aktivität. Von André TummerBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Bandschlaufen können die verminderte Griffkraft unterstützen um z. B. die grossen und kräftigen Muskelzüge des Rückens besser zu trainieren. Gummiring zur Stärkung der Fingerstreckmuskulatur «Dank der Erkenntnis, dass Krafttraining antientzündlich wirkt und Immobilität zu einer Vermehrung des viszeralen Fetts mit resultierender Freisetzung proinfl ammatorischer Zytokine führt, wird Rheumapatienten zunehmend körperliche Aktivität mit aus- reichender Intensität empfohlen. Körperliche Aktivität sollte während des gesamten Krankheitsverlaufs ein Bestandteil der Standardversorgung sein. Das spiegelt sich auch in den neuen Empfehlungen für Rheumapatienten vom August dieses Jahres wider», meint die Physiotherapieforscherin Prof. Dr. med. Karin Niedermann, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaf- ten in Winterthur. Bei geringer entzündlicher Aktivität ist leichte Bewegung durchblutungsfördernd, wärmend, schmerzlindernd und lockert die Muskulatur. Bewegung ist essenziell bei rheumatischen Erkrankungen, um langfristig die Beweglichkeit zu erhalten und Versteifungen vorzubeugen. Eine zusammenfassende Auswer- tung von Studien zeigt ausserdem, dass sie rheumabedingte Erschöpfung lindern kann. Die Muskelkraft unterstützt stabilisierend und soll un- günstige Schonhaltungen vermeiden. Sie hilft Alltagsbelastun- gen besser zu bewältigen und führt deshalb zu einer besseren Lebensqualität. Die Rheumaliga empfi ehlt deshalb ein zweimal pro Woche auszuführendes Krafttraining. Auch das Ausdauer- training zeigte in Studien günstige Wirkungen: Es verbesserte die Lebensqualität, konnte Einschränkungen im alltäglichen Leben leicht verringern und auch Schmerzen etwas lindern. Schmerzen und Erschöpfung können jedoch ein Training vor allem anfangs erschweren, wenn der Körper noch nicht daran gewöhnt ist. Wichtig ist deshalb, dass ein erfahrender Gesund- heitscoach die Belastung an die Beschwerden und das Erkran- kungsstadium anpasst. Art, Dauer und Intensität des Trainings sollten mithilfe standardisierter Testmethoden festgelegt werden, um festzustellen, welche der vier Dimensionen – Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit und Koordination – zu verbessern sind. Dabei sollten krankheitsspezifi sche Kontraindikationen identifi ziert und Faktoren wie Fatigue, Schmerz, Depression und Entzündungsaktivität bei der individuellen Trainingsanpassung berücksichtigt und klare personalisierte Ziele vereinbart werden. Grundsätzlich kommen bei der rheumatoiden Arthritis alle Bewegungsformen infrage, die die Gelenke nicht übermässig be- lasten. Wenn die Gelenke bereits sehr geschädigt sind, sollten hohe Kraftspitzenstösse im Gelenk (Laufen, Springen, ruckartige Wurf- oder Schlagbewegungen) allerdings vermieden werden. Sollten die Finger- und Handgelenke stark betroffen sein und die Griffkraft die Übungen limitieren, könnte auch bei Zug- übungen z. B. für die Rückenmuskulatur mit Handgelenksschlau- fen trainiert werden. Literatur DGRh-Kongress 2018: Sport wirkt bei RA als Entzündungshemmer. In: Orthopädie und Rheuma 2018, S. 22. Goebel, A. et al. (2021): Passive transfer of fi bromyalgia symptoms from patients to mice. The Journal of Clinical Investigation 131 (13): e144201. DOI: 10.1172/JCI144201. Rebel, K.C. (2021): Immunglobulin G für Schmerzen bei Fibromyalgie verantwortlich? medumio.de, online veröffentlicht im Juli 2021. Schäffl er A. (Hrsg.): Gesundheit heute. Trias Verlag Stuttgart 2014.Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Die Leistungsfähigkeit der Rumpfmuskulatur – ein funktionsbezogener Testansatz Krafttraining bei Rückenbeschwerden gehört zu unseren Kernkompetenzen. Genau deshalb sollten wir uns sehr vertieft mit der Problematik auseinandersetzen. Bewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022Bewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Themenübergreifende Einführung Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befasst sich in erster Linie mit inter na tionalen Gesundheits- fragen und der öffentlichen Ge- sundheit. Über diese Organisation tauschen Vertreter der Gesund- heitsberufe ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus, in dem Bestre- ben, allen Menschen ein Gesund- heitsniveau zu ermöglichen, das es ihnen erlaubt, ein sozial und wirtschaftlich produktives Leben zu führen. Das Rahmenkonzept «Gesundheit für alle» für die eu ro päische Region der WHO umschreibt in GESUNDHEIT21 in Kap. 4, Prävention und Bekämpfung von Krankheiten, das Ziel: die Verringerung der nicht übertragbaren Erkrankungen. Am Anfang des trainingsbezogenen Entscheidungspro- zesses (Assessment) steht die Bestimmung des IST-Zustandes betreffend Körperfunktionen und -strukturen, die z. B. für das Beschwerdebild «Rückenschmerzen» ursächlich sein können. Ein Assessment ist demnach auch im gesundheitsorientierten Training ein unverzichtbares Instrument für strukturierte Entscheidungs- prozesse und gleichzeitig ein zwingendes Qualitätskrite rium. Unter diesen international anerkannten Rahmenbedingungen erhalten gesundheitswirksame (Trainings-)Massnahmen ihre gesundheitspolitische Legitimation. In dieser Ausgabe soll in ei- nem ersten Teil am Beispiel «Rückenbeschwerden» exemplarisch die Zugänglichkeit über funktionsbezogenes Testing herausge- arbeitet werden. Teil 2 dieser Thematik (BEWEGUNGSMEDIZIN März 2023) fokussiert – beispielhaft am Problemkreis «Rückenschmerzen» – die wichtige Thematik der Datenerhebung insgesamt und das Testing in Form von körperlichen Leistungstests im Speziellen. 1. Die Fitnessbranche im gesundheitspolitischen Wandel Es ist unverkennbar, dass sich die Fitnesscenter im Branchen- verband SFGV (Schweizerischer Fitness- und Gesundheitscenter Verband), nicht zuletzt dank der etablierten neuen Berufsbildung Fachmann/-frau mit eidg. Fähigkeitszeugnis, Spezialist/Spezia- listin mit Fachausweis und Experte/Expertin mit eidg. Diplom, alle mit dem Zusatz «in Bewegungs- und Gesundheitsförderung», zunehmend auch im gesundheitsorientierten Bereich des Trai- nings positionieren. Damit ist eine immer stärkere medizinisch orientierte Vernetzung zwischen bewegungsmedizinisch Mit der Positionierung als Gesundheitsanbieter, gestützt durch die Umverteilung der Berufsbilder, wird auch unsere Arbeit in der Fachwelt begutachtet. Es ist deshalb notwendig, die gängige Praxis stets zu hinterfragen und eventuell zu korrigieren. Dies soll hier am Beispiel des Beschwerdebildes «Rückenschmerzen» dargestellt werden. Urs Geiger, PTScFH, CAS CADM, CAS Sportphysio therapie, Berufsschullehrer HWS Huber Widemann Schule, Basel, langjäh- riger Berufsbildner, Praktikumslehrperson DZ, ETH Zürich, BuchautorBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung ausgerichteten Centern und anderen Anbietern im Gesund- heitswesen erfolgt. Die entsprechend anerkannten Ausbil- dungsunternehmen tragen eine hohe Verantwortung gegen- über ihren Kunden, weil das berufl iche «Spielfeld» nicht mehr allein der sportlichen Freizeitgestaltung zuzuordnen ist, son- dern einen zu nehmend grösseren therapeutischen, rehabilitati- ven und präventiven Arbeitsbereich umfasst (A. Tummer, 2021). Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die genannten Ge- sundheitscenter – nach Anerkennung gemäss Bestimmungen der Weltgesundheitsorganisation WHO – nicht mehr dem Be- reich «Fitness und Freizeit», sondern dem Bereich «Gesundheit und Soziales» zugeordnet werden. Mit dieser, auch gesund- heitspolitisch relevanten Neueinstufung hat ein akkreditierter Teil – ehemals als «Fitnessbranche» tituliert – den entscheiden- den ersten Schritt hin zu einem gesundheitspolitischen Wandel geschafft und steht nun am Anfang einer entsprechenden Neuausrichtung ihrer Kernkompetenzen. Die OdA Bewegung und Gesundheit ist verantwortlich für die Berufsbildung der gesundheitswirksamen Bewegungsberufe in der Schweiz. Unter den anerkannten Bewegungsberufen (ge- sundheitswirksame Bewegung) sind dies namentlich Fachfrau/ Fachmann Bewegungs- und Gesundheitsförderung EFZ 1 . Die günstigen Gesundheitswirkungen von Bewegung und Training sind wissenschaftlich sehr gut belegt. Mit den erlangten beruf- lichen Handlungskompetenzen kann diese Berufsgruppe die genannten Empfehlungen aller massgebenden internationalen Institutionen wie z. B. der WHO idealerweise im primär- und sekundärpräventiven Bereich umsetzen. «Review» Studienergebnisse in der Literatur (Kurzübersicht) U. Geiger, 2022 Zusammenfassung aus H. Uhlig: Die Rekonditionierbarkeit von Rückenpatienten mit chronischer muskulärer Insuffi zienz (1999). S. Taimela (1996) Finnland S. Risch et al. (1993) USA R. Takemasa et al. (1995) Japan R. Biggoer et al. (1997) Schweiz/BRD A. Denner (1997/1998) Deutschland Multizentrische StudieInterventionsstudieVergleichsstudie: Patienten mit und ohne organische lumbale Läsion Multizentrische StudieLängsschnittstudie 143 Patienten Altersdurchschnitt: 43.5 Jahre 31 Patienten mit chro- nischen Rückenschmerzen Altersdurchschnitt: 44 Jahre 72 Patienten mit chronischen Schmerzen Altersdurchschnitt: 28.1–32.2 Jahre 565 Patienten mit chroni- schem Lumbalsyndrom 376 Patienten mit subakuten und chronischen Rückenbeschwerden Altersdurchschnitt: 41.3–46.1 Jahre Multimodales Behandlungs- programm mit Schwerpunkt progressives dynamisches Krafttraining Progressives dynamisches Krafttraining Funktionsgymnastisches Dehn- und Kräftigungsprogramm der Rumpfmuskulatur Progressives dynamisches Krafttraining (drop-out-Rate: 11.2 %) Progressives dynamisches Krafttraining Dauer: 12 Wochen 24 Trainingseinheiten Dauer: 10 Wochen 14 Trainingseinheiten Dauer: 4 MonateDauer: 8–14 Wochen 12–14 Trainings-einheiten Dauer: 12–14 Wochen 79 % der Patienten mit Stei gerung der Maximalkraft in allen Rumpfmuskelketten um ca. 30 % Verbesserung der iso- metrischen Maximalkraft der lumbalen Extensoren um 42.2 % Patienten mit organischen lumbalen Läsionen muskulär in gleicher Weise trainierbar wie Patienten ohne Läsionen Kraftzuwachs der Lumbal- extensoren: Männer: 43 % Frauen: 41 % Durchschnittliche Maximalkraft- steigerung der Rumpfmuskulatur um 30.1–32.5 % Signifi kante Schmerzreduktion bei 79 % der Patienten (bei 14 % keine Veränderung) Schmerzreduktion um 17 % Reduktion körperlicher Dysfunktion um 15.4 % Signifi kant stärker ausgeprägte Reduktion der vor Trainingsbe- ginn bestehenden identischen Schmerz-parametern Schmerzreduktion bei 76 % der Patienten nach Therapie- ende (9 % schmerzfrei, 35 % mit unwesentlichen Restbeschwerden) Völlige Beschwerdefreiheit nach Trainingsende bei 25.6 % aller Patienten Signifi kante Reduktion der Be- schwerderegelmässigkeit bei noch nicht beschwerdefreien Patienten Tabelle 1: Die Studien aus Finnland, den USA, Japan, Schweiz und Deutschland bei Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden bestätigen, dass progres- sives dynamisches Krafttraining eine hocheffi ziente Massnahme zur ambulanten Rekonditionierung bei Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden ist; eine Abhängigkeit der Rekonditionierbarkeit chronischer Rückenpatienten von der Diagnose scheint darüber hinaus nicht zu bestehen (H. Uhlig, 1999). 1 Eidg. FähigkeitszeugnisBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 2. Historie zum Problemkreis «Rückenbeschwerden» In den späten 90er-Jahren war die Thematik der (chronischen) Rückenbeschwerden allgegenwärtig. Dieses «epidemisch» zu- nehmende Krankheitsbild (syn.: Low Back Pain) wurde als gros- ses sozio-ökonomisches Problem eingestuft und steht auch heute noch unverändert oben auf der Liste primär lebensstil- bedingter Gesundheitsprobleme. Aus diesen Gründen beschäf- tigte dieses als Zivilisationskrankheit eingestufte Beschwerde- bild sowohl die Medizin und Trainingswissenschaft als auch die Industrie (vgl. Ergonomie am Büroarbeitsplatz, Sitzmöbel u. v. m.) gleichermassen. In dieser Zeit wurden wahrscheinlich die meisten Studien publiziert, die einerseits die Ursachen und anderseits die Therapiemöglichkeiten aufzuzeigen versuchten, welche die noch heute allgemein anerkannten Erklärungsmodelle hervorge- bracht und entsprechend Einzug in mehr oder weniger diffe- renzierte Interventionsprogramme in Rehabilitation und Präven- tion gefunden haben. Die Kraft der Rumpfmuskulatur war immer wieder Ge- genstand von Studienfragen nach der Kausalität von Rücken- beschwerden. Tabelle 1 fasst im Sinne eines Reviews Studien- ergebnisse aus der Literatur zusammen, die aus der Arbeit von Uhlig, «Die Rekonditionierbarkeit von Rückenpatienten mit chronischer muskulärer Insuffi zienz (1999)» hier als Zusam- menfassung auszugsweise beschrieben sind. Im etwa 7-jährigen Zeitfenster der wegweisenden Studien wurde auch der Begriff «Deconditioning-Syndrom» eingeführt und allgemein genutzt. Mit der «Diagnose» Decon- ditioning-Syndrom werden die unspezifi schen Rückenbe- schwerden indirekt mit Inaktivität assoziiert, die zu einer ab- nehmenden muskulären Leistungsfähigkeit durch Kraftverlust mit konsekutiven Rückenbeschwerden führen. Das weist mehr oder weniger zwingend auf die Notwendigkeit einer Rekondi- tionierung durch (Muskel-)Training hin. In den nach folgenden beiden Dekaden wurden in einer sich infl a tionär ablösenden Folge gewisse Trainingsmethoden (u. a. «Group Fitness») als besonders wirksam deklariert, ohne dass dabei der gewünsch- te Evidenznachweis erbracht worden wäre. Es dürfte diesem Umstand geschuldet sein, dass nahezu alle Formen von Rumpfübungen als «trainingswirksam» angesehen werden und deshalb das Überprüfen der Trainingsintervention auf ihre spezifi sche Wirksamkeit nicht mehr als Notwendigkeit an- gesehen wird. 3. Konsequenzen der posturalen Ontogenese 2 für den Rumpfbereich Es ist eine biohistorische Gesetzmässigkeit, dass phylogenetisch junge Entwicklungen, wie die des «Homo erectus» (sapiens sa piens) noch variabel, wenig gefestigt und daher empfi ndlich und störan- fällig sind (K. Wiemann, 1999). In Trainings- und Gesundheitswis- senschaft anerkannt ist die zentrale Rolle des Rumpfes als stabile Basis für nahezu aller Bewegungen sowohl der unteren als auch der oberen Extremitäten und dies nicht nur im Sport. Die genannte stabile Basis ist von der ausreichenden Ausprägung myofaszialer Funktionsmechanismen und sensomotorischen Eigenschaften wie (Rumpf-)Kraft, (Kraft-)Ausdauer, Steifi gkeit/ Festigkeit (Stiffness), neuromuskulärer Kontrolle und inter muskulärer Koordination ab- hängig. Obwohl hier verschiedene Einfl ussfaktoren auf die Intakt- heit der Rumpffunktionen insgesamt aufgeführt sind, sei an dieser Stelle schon jetzt betont, dass der Komponente Muskelkraft eine überragende Rolle zukommt. Ständiges Sitzen ist Gift für alle aktiven und passiven Strukturen des Rückens. 2 Entwicklung zur aufrechten LebensweiseBewegungsmedizin – Nr. 15 / Dezember 2022 Fachliche Informationen Bewegungs- und Gesundheitsförderung Einerseits kann nur dieser Konditionsfaktor die Integrität des Achsenorgans Wirbelsäule bei jeder Form vor allem grosser Belastungen garantieren und anderseits ist die Anforderung an die Ausdauerleistungsfähigkeit nur unter dem Aspekt der physiologischen Belastung der Wirbelsäule in aufrechter Posi- tion relevant. Unter überwiegend statischen Langzeitbelastun- gen kann die gewünschte aufrechte (Sitz-)Haltung über länge- re Zeit von den kurzen und tiefl iegenden Muskeln des medialen Trakts des M. erector spinae überwiegend aerob abgesichert werden, nicht aber, wenn mehr Haltearbeit durch Verlagerung der Körperlängsachse im Raum und / oder grössere Muskel- kräfte infolge zusätzlicher Aktivitäten der Extremitäten geleis- tet werden muss. Aus diesem Grunde wird in der nächsten Ausgabe eine neu konzipierte 4-teilige Testserie der Rumpf- kraft vorgeschlagen. 3.1. Ein pathophysiologischer Exkurs Monotone Tätigkeiten wie andauerndes Sitzen können die ad- äquate Steuerung der segmentalen und regionalen Muskulatur nachhaltig stören. Dies geschieht durch Inhibition, also neuronale Hemmung der Aktivität mit Vergrösserung der neutralen Zone 3 , was primär die segmentale Stabilität beeinträchtigt und eine kompensatorische Verschiebung der posturalen Funktionen, überwiegend in Form isometrischer Haltarbeit der langen, gera- den Muskeln zur Folge hat. Diese oberfl ächlichen, langen Mus- keln sind aber aufgrund ihrer biomechanischen Möglichkeiten, ihrer posturalen (An-)Steuerung und ihres Muskelstoffwechsels (überwiegend anaerob) nicht für andauernde Haltefunktionen ausgestattet. Ihre Überlastung führt daher zu nozizeptiven Affe- renzen, die refl ektorisch über WDR und Interneuronen-Pool zu einer Veränderung des physiologischen Tonus in den betroffenen Muskeln führt (vgl. Abb. 1). Diese Veränderungen innerhalb der myotatischen Einheiten führt aufgrund ihres pathomechani- schen Potentials auf kortikaler Ebene – wenn chronisch – zu plas- tischen Veränderungen, die als Ruhe- und/oder Bewegungs- schmerzen manifest werden können. 4. Funktionelle Bedeutung der Rückenmuskulatur für die posturale Kontrolle Zur effi zienten und ökonomischen Ausführung motorischer Auf- gaben, vor allem über Zielbewegungen von Armen und Beinen, ist eine adäquate Einstellung und Stabilisierung von gelenkbezoge- nen Fixpunkten (punctum fi xum) erforderlich. Obwohl alle Mus- kelschichten dazu einen aktiven Beitrag leisten können, sind die segmentalen Muskeln von entscheidender funktioneller Bedeu- tung. Bei potenzieller Verlagerung des Körperschwerpunktes sind sie als primäre Effektoren posturaler Programme für eine ange- passte Adjustierung bzw. Einstellung der Bewegungssegmente verantwortlich. Dabei sichert ihre Feed-forward-Aktivität noch vor der Bewegungsausführung die richtige Stellung der Wirbel- körper untereinander. Bei nur geringer Verlagerung des Körperschwerpunktes (KSP) ist die Aktivierung der segmentalen Muskeln zur Aufrecht- erhaltung des dynamischen Gleichgewichtes durch Absicherung Abb. 1: Schematische Darstellung pathophysiologischer Verarbeitung nozizeptiver Afferenzen im Bereich der Wirbelsäule. Die Beschreibung «lordosierende und kyphosierende Muskeln» bedeutet eine vereinfachende Verallgemeinerung des neuropathologischen Einfl usses auf Muskelgruppen der Wirbelsäule im Sinne einer reaktiv-protektiven Fehlhaltung in Flexion; die «black box» steht für den Interneuronen-Pool mit exzitatorischen und inhibitorischen Neuronen. WK = Wirbelkörper, RM = Rückenmark, WDR = wide dynamic range Neuron (aus Manuelle Medizin 52, H. Nazlikul, 2014) 3 Potenziell mögliches translatorisches Bewegungsausmass eines stabilen Bewegungssegments über limbisches System / Interneurone kyphosierende Muskeln Inhibition Gelenk WK Noziafferenz aus:Gehirn RM lordosierende Muskeln Wirbelgelenk Extremitätengelenk Haut (Kälte, Druck ...) Viscerale Organe Muskeln, Sehnen – Überlasung – Trigger – Dysbalance – Trauma Psyche WDRANZEIGE NEU • Präzise, reproduzierbare Messungen • Innovative 3 MHz- Messtechnologie • Direkt-segmentale Messung von Rumpf & Extremitäten Die Innovation in der Körperzusammen- setzungsanalyse InBody 970 Grindelstrasse 12 | 8303 Bassersdorf Tel. +41 44 500 31 80 www.best4health.ch der lokalen Stabilität ausreichend. Mit räumlich grösserer Verlage- rung des KSP werden zunehmend auch die polysegmentalen kur- zen Muskeln (2- bis 6-segmental) und die langen Muskeln (mehr als 6-segmental) aktiviert. Dabei erfolgt – unter dynamisch-seg- mentaler Feed-forward-Stabilität – die Bewegungsführung über die langen, überwiegend phasischen Muskeln. Funktion und Beanspruchung der Rumpfmuskulatur, na- mentlich im Zusammenhang mit lumbosakralen bzw. -thorakalen Beschwerden, die mit einem funktionellen Defi zit dieser komplexen Muskelgruppe in Verbindung gebracht werden, sind noch immer Gegenstand von empirischen Studien. Mit der häufi g gestellten «Diagnose» Lumbovertebralsyndrom (LVS) kommt zum Ausdruck, dass es sich um unspezifi sche Rückenschmerzen handelt, welche häufi g von mehreren Symptomen begleitet sind. Mit dem Begriff «unspezifi sch» wird zum Ausdruck gebracht, dass bei dieser Form von Rückenschmerzen keine vertebragene Ursache vorliegt. Uneingeschränkter Beliebtheit erfreuen sich Studien, die einen Zusammenhang von Muskelkraft und Funktionsstörung nachweisen. Dass eine mehr oder weniger grosse Korrelation zu bestehen scheint, muss nicht hinterfragt werden. Weil sich aber das funktionsbezogene Kraftspektrum der Rumpfmuskulatur vielseitig darstellt, ist die Frage zentral, welche Halte- und Be- wegungsfunktionen des Achsenorgans getestet werden sollen. Damit erlangen auch Aspekte zum Bewegungsausmass, zur Bewegungsdynamik und zu Arten der Muskelkontraktion und ihren Kombinationsformen eine besondere Bedeutung. In diesem Zusammenhang sei hier betont, dass eine primä- re Aufgabe der Rumpfmuskulatur das exzentrisch kontrollierte Nachgeben in eine gewünschte Endstellung oder das Verhindern einer Bewegung gegen die Einwirkung äusserer Drehmoment- kräfte ist. Zudem weisen Zielbewegungen häufi g eine dreidi- mensionale Komponente auf, die mit unterschiedlichen Anteilen isometrischer und isotonisch exzentrischer, also auxotonischer Muskelaktivität erreicht werden. Im Rahmen posturaler Programme für Haltung und Bewe- gung im Schwerefeld spielen die Muskeln des Rumpfes als Effek- toren bekanntlich eine zentrale Rolle. Aufgrund der komplexen sensomotorischen Steuerung und der unterschiedlichen motori- schen Aufgaben dieses komplexen Muskelsystems kann eine Ein- teilung nach neuroanatomischen, biomechanisch-anatomischen und funktionell-anatomischen Aspekten hilfreich sein (vgl. Abb. 3), wobei Kriterien nicht ausschliesslich einem Aspekt zugeordnet werden können (C. Otte, 2017). Next >